Datierung mithilfe des Ekliptikwinkels ?
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Berlin · 2019  Uwe Topper topper

Dodwell - Richards - Faulkner

Ergänzung zum Artikel "Die Abnahme der Ekliptik" (2018) und zum Buch "Das Jahrkreuz" (2016)

Teil 1: Verschiebung des Wendekreises oder Änderung der Ekliptik ?

Die Erde wurde seit frühester Zeit als Kugel aufgefaßt. Der Reichsapfel war Kennzeichen für den Erdball, das ertrike (Erdreich) (Sachsenspiegel, Art. 1; zit. in Jung 1939, S. 99). Der Reichsapfel in des Kaisers Hand konnte auch ein Jahrkreuz tragen (gleichschenklig, aber natürlich ohne angehefteten Mann, cruzifix). Dieses Kreuz war abstrakte Kennzeichnung des Sonnenweges (4 Jahreszeiten) oder der räumlichen Ausdehnung der Welt (4 Himmelsrichtungen). Die Stellung der Kugel im weiten Meer des Himmels galt als Meßpunkt der ablaufenden Zeit.
Wenn Dante die Überlieferung von einer veränderten Erdstellung gegenüber den Sternen (am Beispiel des Kreuz des Südens) als Vorstellung in seiner Göttlichen Komödie (Fegefeuer, 1. Gesang) verwenden konnte (wie zitiert 2007 "Dante - eine neue Datierung" ), dann muß diese Überlieferung damals verständlich in dem hier gezeigten Sinne gewesen sein: Die Stellung der Erde hinsichtlich der bekannten Sternbilder muß sich im Überlieferungszeitraum gewandelt haben.
Offen bleibt, ob Präzession oder Ekliptikänderung als Ursache angesehen wurden.
Das hat sich bis heute nicht geändert, beide Ursachen werden von verschiedenen Archäoastronomen zur Altersbestimmung benützt. Generell werden rein mathematische Hochrechnungen aufgrund der Kräfteverhältnisse von Sonne, Mond und der Planeten, sowohl für vergangene Präzessionszeiträume als auch für die vergangene Ekliptikschiefe-Abnahme (Aufrichtung der Erdachse) angewendet. Dabei ergaben sich verschiedene, leicht abweichende Kurven mit unterschiedlichen Grenzwerten der Zyklen.
Zuweilen wurde auch die Änderungsrate der letzten zweihundert Jahre in Betracht gezogen und für frühere Zeiträume hochgerechnet, wobei deutlich andere Kurven als die theoretisch berechneten entstehen. Es gibt mehrere Kurven für die säkulare Ekliptikschiefenänderung, die stark voneinander abweichen. (Eine neue Kurve bringt Laskar 1986). Außerdem wurde der Versuch gemacht, historisch bezeugte Meßwerte zu einer Jahrtausende zurückreichenden Kurve auszubauen und dann die vermessenen Werte von Bauwerken, deren Alter bestimmt werden soll, auf diesem Zeitstrahl einzuordnen. Eine solche Kurve weicht besonders stark von den theoretisch errechneten Kurven ab (Dodwell, siehe Teil 2).

Das Wegtauchen horizontnaher Sternbilder durch die allmähliche Verringerung des Ekliptikwinkels braucht sehr lange Zeiträume. Durch die Präzessionsbewegung – erst recht bei einem Sprung derselben – würde eine Änderung der Sternbilderaufgänge oder des Polpunktes schneller vor sich gehen und daher in historischen Zeugnissen (wie dem von Dante) vorkommen.
Während die Änderung der Ekliptikschiefe schon sehr lange bekannt ist, hat man die Präzession wohl erst seit Hipparch näher untersucht und gemessen. Daß sie auch Sprünge machen kann, ist bisher für die chronologische Bestimmung kaum beachtet worden.

Zusammengefaßt hier noch einmal die Grundgedanken unserer Theorie der Präzessionssprünge (wie beschrieben im Jahrkreuz 2016):
Bei einem Präzessionsruck ändert sich das Zeitmaß mit folgenden Auswirkungen:
1. Es springt der Himmelsäquator gegen die Ekliptik, wodurch sich der Tag der Frühlingsgleiche auf dem Jahresweg verschiebt, was sich kalendarisch auswirkt, solange der Kalender an den tropischen Festpunkten des Jahres festgemacht ist, z.B. Frühlingsbeginn immer am 21. 3. (+-1), wie es in unserem heutigen Kalender der Fall ist.
2. Dabei kann sich der Zeitraum für den Umlauf (die Jahreslänge) leicht ändern, zu- oder abnehmen. Die Geschwindigkeit der Präzession kann sich dadurch ändern.
3. Die Lage des Himmelspols verschiebt sich.
4. Ebenso ändert sich die Sichtbarkeit der Sterne am Horizont.

Alle diese Änderungen gehen zusammen in einem Ruck vor sich, gefolgt von einer ausschwingenden Bewegung in beide Richtungen ("Trepidation"), die einige Jahrzehnte lang deutlich erkennbar sein kann, dann nur noch mit guter Meßtechnik und später gar nicht mehr feststellbar ist.

Es ändert sich nicht der geografische Nordpol (die Stelle, wo die Drehachse aus der Erdkugel heraustritt).
Dieser Grundsatz bleibt stets erhalten, andernfalls würden die Ausrichtung von alten Sonnenpeilungen oder die exakte Nordrichtung der großen Pyramide heute nicht mehr stimmen. Von einer Polwanderung, wie sie von Geologen für die Erdgeschichte angenommen wird, ist in dem kurzen Zeitraum unserer Überlieferung nicht die Rede.

Die genannten Verschiebungen beim Präzessionsruck und die kontinuierliche Ekliptik-Aufrichtung sind nicht gekoppelt, wie ich ebenfalls gezeigt habe (Jahrkreuz 2016 und hier Abnahme der Erdschiefe).

Die Änderung des Datums beim Ruck (oben Nr. 1) war Grund für die Kalenderreform von Gregor 1582 (Sprung über zehn Tage).
Die Änderung der genauen Jahreslänge (oben Nr. 2) wurde bei der Gregorianischen Kalendereform gleich mitberichtigt durch eine neue Schaltregel.
Die neue Lage des Himmels-Nordpols (Nr. 3) war für den liturgischen Kalender unwichtig. Sie wurde später in der Kirche Santa Maria degli Angeli in Rom in einem Bodenbild sichtbar gemacht.
Die Änderungen in der Sichtbarkeit der Horizont-Sternbilder (Nr. 4) spielen für den Kalender ebenfalls keine Rolle und blieben von der vatikanischen Kommission unbeachtet. Sie sind erst heute zwecks Altersbestimmung vorgeschichtlicher Bauten von Interesse.

Teil 2: Dodwells Argumentation

Kürzlich ist mir im Internet ein Buch bekannt geworden, das sich mit dem Thema der Datierung mithilfe der Ekliptikänderung beschäftigt (also nicht mit unseren Präzessionssprüngen):
Dodwell, George F.: The Obliquity of the Ecliptic. Ancient, medieval, and modern observations of the obliquity of the Ecliptic, measuring the inclination of the earth's axis, in ancient times and up to the present (Wayville, South Australia, October 1962) Herausgeber: Barry und Helen Setterfield im Auftrag der Astronomical Society of South Australia (February 2010).

Dodwell, der seine Kritik an Stockwell (1873) und der von Simon Newcomb 1890 erstellten, 1896 international anerkannten und später leicht verbesserten Kurve aufbaute, fand gegen 1934 heraus, daß alle frühen Messungen der Ekliptikschiefe von der "international anerkannten" Kurve (Stockwell – Newcomb) abwichen, was nicht auf grobe Fehler zurückzuführen sei sondern auf eine unbekannte Veränderung der Erdbewegung in jenem Zeitraum. Der Beginn der drastischen Änderung der Ekliptikschiefe liegt für ihn bei 2345 BC. Von da an gibt es eine fortwährende Angleichung der "historisch bezeugten" Erdbewegung an die logarithmische Kurve bis zum Zeitpunkt 1850 AD, ab dem die heutige Stabilität (und Übereinstimmung der beiden Kurven) erreicht sei.
Entgegen der allgemeinen Ansicht, daß die früheren Messungen die Fehler der alten Astronomen bezeugen, schließt Dodwell dies kategorisch aus (Eingabe an die Royal Astronomical Society 1935, von dieser abgelehnt).

Nachfolgend Fig. 5 aus Dodwell : Newcombs Kurve und die der antiken Beobachtungsdaten gegenübergestellt.

Abb. 5
Zwei Kurven der Schiefe der Ekliptik

(a) Newcombs International Formula
(b) Dodwells Kurve historischer Beobachtungsdaten.

Die von Dodwell aufgestellte "historisch belegte" Datensammlung und daraus entwickelte Kurve, die er der errechneten Kurve von Newcomb entgegenstellt, ist jedoch angreifbar. Zuerst fällt auf, daß die benützten Punkte keineswegs auf einer idealen Kurve liegen, sondern eine wellenförmige Kurve ergeben, wenn man sie miteinander verbindet, wie diese finale Kurve Dodwells zeigt. Dabei ging Dodwell stets von einer zyklischen Präzession von rund 25800 Jahren für einen Umlauf aus.
Dodwells Kurve der historischen Beobachtungen ist brüchig; sie geht zunehmend schwächer belegt bis 1000 AD zurück, dann folgen vereinzelte Angaben der Griechen sowie ab 0 Ztr. auch Chinesen, von denen einer bis 1100 v.Ztr. zurückgeht. Ein starker chinesischer Ausreißer bei 1000 v.Ztr. ist auch dabei. Sodann folgen zwei Angaben für den ägyptischen Sonnentempel in Karnak, das war's. Daraus eine ideale Kurve zu interpolieren, erfordert Geschick bzw. Großzügigkeit.
Die ausgewählten Beobachtungen sind auf Quellen gegründet, deren Datierung von Dodwell nicht kritisch untersucht wurden.
So war ihm trotz aller Skepsis und sorgfältigen Ausschließung möglicher Fehlerquellen – wie Refraktion, verschwimmende Schattengrenze oder Nichtbeachtung des Unterschiedes von Sonnenmittelpunkt und Sonnenrand – nie der Gedanke gekommen, daß die von ihm verwendeten "historischen" Quellen und die darin stillschweigend eingebauten Jahreszahlen einer scharfen Untersuchung unterzogen werden müßten. Die Jahreszahl 2345 BC gilt ihm als das früheste Datum der Ekliptikmessungen. Vorher habe die Erdachse senkrecht gestanden und sei durch einen abrupten Stoß in die Schräglage geraten.
Aus diesem Grunde lehnten schon damals viele Kollegen die Arbeit ab, denn die Vorstellung von einer senkrechten Erdachse gehört zum Mythos des ewigen Frühlings und ist nur ein erdachter Idealzustand, den Geologen, wenn überhaupt, in Millionenjahrenabstand stehen lassen.

Zur Quellenlage muß ich immer wieder darauf hinweisen, daß die chinesischen Texte durch die Arbeit der Jesuiten dermaßen an die christliche Jahreszählung angepaßt sind, daß sie in dieser Hinsicht keine eigenwertige Arbeitsgrundlage bieten können (siehe Topper, Große Aktion, 1998, Kap. 12). Namen wie Gaubil, S.J. und Biot, deren Werke Dodwell heranzog, sind hinsichtlich der Jahreszahlen nur als Unterstützung für die christliche Chronologie aufzufassen. Die Fälschung des Nestorianersteins durch Trigault, S. J., der sich nach der Aufdeckung erhängte, ist das auffälligste Beispiel für diese Arbeitsweise.
Für die Messungen der Hindus, die Dodwell anführt, gilt die Unzuverlässigkeit der Jahresangaben in noch stärkerem Maße.
Die Exaktheit der Messungen der alten Griechen steht für Dodwell außer Zweifel, was er mit guten Argumenten zeigt. Paul Tannery (S. 120) war einer der wenigen, der die Messungen des Eratosthenes und der anderen Griechen als exakt verteidigte, wie Dodwell anführt. Pythagoras (und seine Zeitgenossen wie Thales) hatten praktisch genau 24° für Epsilon ermittelt.
Wie stark sich die Verschiebung der Ekliptik seit dem Griechen Eratosthenes ausgewirkt hat, können wir an der Lage von Syene ermessen, dessen Brunnen bei 23° 51’ 15” N gelegen haben soll, was mit anderen Angaben der Antike übereinstimmt, gegenüber der heutigen Breite 24° 5' 23" N für denselben Ort (Syene, Aswan).

In der Zusammenfassung von Kap. 1 sagt Dodwell: Da die Verschiedenheit der Newcombschen (errechneten) Kurve von der durch Beobachtungsdaten seit der Antike erstellbaren Kurve nicht auf Meßfehlern beruht (wie gezeigt), kann nur das Vorhandensein einer Abnormalität von unerwarteter Art angenommen werden ("the existence of some abnormality of an unexpected kind").
Dagegen steht: Das kann sich auf die Verwirrung der chronologischen Festpunkte beziehen, zum Beispiel auf eine Abweichung der Jahreszählung in den einzelnen Angaben, die nicht koordiniert wurden. Oder durch rückerschlossene Jahreszahlen, die auf Zirkelschlüssen beruhen (Peiser 1990). Etwa auch durch chronologische Sprünge, wie sie durch einen Präzessionsruck entstehen. Dafür muß die Ekliptik sich nicht drastisch geändert haben, die Verzerrung kann durch Anwendung einer irrtümlichen Jahreszählung entstehen.

Teil 3: Die Vorläufer

Der Gedanke, daß die ägyptischen Tempel oder Pyramiden eine astronomisch bedeutsame Ausrichtung festgelegt haben könnten oder diese sogar weitergeben wollten, kam den Ägyptologen erst allmählich, dann aber mit unwidersprochener Sicherheit. Am Beispiel des Sonnentempels von Karnak war schon Norman Lockyer die Möglichkeit astronomischer Altersbestimmung aufgefallen. Bald wurden an vielen ägyptischen Tempeln derartige Lichtpeilungen erkannt.
Norman Lockyer schrieb 1894 ("Die Morgendämmerung der Astronomie") über den Sonnentempel von Karnak, daß der Bau höchst präzise ausgerichtet wurde, damit die Sonnenstrahlen bei Sonnenuntergang an Sommersonnenwende auf dem zentralen Altar sichtbar werden. Durch 18 seiteneinschränkende Säulen bzw. Durchblicke wird der Lichtstrahl gezielt auf den Altar gewiesen.

Die noch heute geltende Ansicht besagt, daß man nur die Ekliptikschiefe während der Bauzeit eines Tempels wissen muß, wenn man dessen Erbauungsdatum errechnen will. Es gab einen großen Aufschrei, als man diese Methode auf den Tempel von Karnak anwandte und Daten erhielt, die sehr viel höher lagen als erwartet. Die Archäologen hatten sich trotz aller Unklarheiten auf 2700 BC geeinigt. Stockwell hatte für den Karnak-Wert von Epsilon (24° 12') das runde Alter von 7000 BC errechnet, während Lockyer mit etwas sanfterer Kurve 3700 BC erhielt. Es gab nur eine sinnvolle Lösung: Entgegen aller vorherigen Beteuerungen einigte man sich nun, daß der Sonnentempel keine relevante Ausrichtung auf die Sonne anzeigte. Die Datierung seitens der Archäologen hatte über die der Astronomen gesiegt.

Folgendes sei am Rande angemerkt: Richards (1921) bemerkte zwar, daß die Tempelachse einen leichten Knick aufweist, woraus zu schließen sein könnte, daß sich der Sonneneinfallswinkel nach Errichtung des ersten Baus geändert hatte, so daß die zweite Bauphase mit einem anderen Winkel Epsilon rechnen mußte und daraus der Zeitabstand zwischen den beiden Bauphasen berechenbar sein könnte. Lockyer begnügte sich aber mit dem Datum des ersten Bauwerks (S. 2). Möglicherweise könnte die brüske Änderung der Tempelachse auf einen Ruck schließen lassen.

(Hier die beiden Grundrisse von Richards. Auf dem unteren ist der Knick der Zentralachse der linken Vorbauten gegenüber dem Hauptbauwerk zu erkennen.)

Richards Karnak GrundrißRichards Karnak Knick

Die Berechnungen von Richards und seinen Vorgängern sind dermaßen peinlich genau, daß selbst minimale Faktoren wie Luftdruck und Temperatur für die Refraktion beachtet wurden, und ebenso die Verwitterung der Säulenkanten (mit 1 arcmin in der Rechnung angegeben).
Was Richards wie auch Dodwell nicht in Erwägung zogen: Die Höhe oder auch die Gestalt des Horizontes (und damit der Lichteinfall) könnte sich geändert haben, etwa durch tektonische Hebung oder Senkung.
Richards kommt zu dem Schluß: Exakte astronomische Berechnungen der Ekliptik sind kaum älter als 200 Jahre und selbst mithilfe überlieferter Finsternisse der letzten 6000 Jahre ist keine genaue Aussage über die Ekliptik möglich, darum kann auch kein genaueres Datum der Tempelgründung erzielt werden, als durch die archäologische Forschung gefunden wurde (S. 10).

Das Ergebnis spricht gegen die inzwischen gebräuchlich gewordene Bestimmung des Alters astronomisch gerichteter Bauten mithilfe des jeweiligen Ekliptikwertes, wie sie Lockyer auch für Stonehenge eingeführt hatte.
Erich Jung (1939, S. 295) sagt im Zusammenhang der Sonnenpeilung zwecks Feststellung des Alters, daß wohl der Mittelpunkt der Sonnenscheibe genommen wurde, wie man aus der beherrschenden Rolle schließen möchte, die die Darstellung der Halbsonne im deutschen Holzbau spielt, z.B. an Fachwerkhäusern usw (S. 111).
Dabei (S. 330) stellt er aber (mit Hinweis auf Rolf Müllers Argumentation) fest, daß Lockyers Berechnung des Alters von Stonehenge mithilfe der veränderten Ekliptikschiefe wegen der Geringfügigkeit der Änderung und der Ungenauigkeit des Peilens auf schwachen Füßen steht.
Müller hat später (1970) seinen Altersberechnungen eine theoretische Kurve der säkularen Ekliptikänderung (S. 15 für den Zeitraum 2000 v.Ztr. bis 2000 AD fast geradlinig) zugrundegelegt. Für 1800 v.Ztr., das am häufigsten von ihm ermittelte Alter, nahm er Epsilon = 23.9° an, was – wie wir von Eratosthenes und seinen Vorgängern erfahren – schon zu ihrer Zeit zu klein gewesen wäre (24°). Da klaffen mehr als 2000 Jahre auseinander.
Für die Ruinen des Sonnentempels von Tiwanako in Peru benützte Müller (1930) eine Kurve der Ekliptikschiefe, die von der internationalen Ephemeridenkonferenz in Paris im Oktober 1911 erstellt wurde und ebenso inakzeptabel hohe Werte für den Sonnentempel ergibt, weshalb er eine etwas engere Kurve vorschlägt (dort Abb. 6).
Außerdem hat Müller zwecks Datierung megalithischer Denkmäler die Peilung von Sternaufgängen dieser Anlagen ermittelt (S. 137), die dann durch die Kurve der präzessionsbedingten Änderung bestimmbar sind. Die Annahme, Sternaufgänge wie Capella oder Wega könnten beim Bau der Hünenbetten oder Steinreihen richtungsweisend gewesen sein, ist allerdings völlig unsicher und wird von ihm selbst mit Fragezeichen versehen.

4. Faulkners Kritik an Dodwell

Mit Dodwells These hat sich kürzlich ein Fachmann beschäftigt, Danny Faulkner (2013), der Dodwell und die Brauchbarkeit seiner Kurve widerlegt.
Faulkner sagt: Dodwell zitiert mehrfach den flämischen Astronomen Godefroy Wendelin, geboren 1580, aber die neueren Daten für die Ekliptikschiefe weichen so wenig von der Newcombschen Kurve ab, daß sie in den Bereich der Ungenauigkeit fallen. Dodwell "korrigierte" einige der mittelalterlichen arabischen Daten, um sie seiner Kurve anzugleichen, andere nicht, wenn sie schon paßten (S. 12).
Die von Dodwell verwendeten elf chinesischen Angaben verwirft Faulkner rundweg (ebd.).
Was die vier griechischen Daten angeht (Fig. 11), so ist zwar ihre Abweichung nicht einfach mit falscher Messung zu erklären (bleibt also letzlich unerklärt), aber Dodwells Kurve werde damit keineswegs aufgewertet.
Was aber Dodwells Festlegung des Ekliptiksprungs bei 2345 v.Chr. betrifft, die erklärt Faulkner so: Dodwell war ein 7-Tage-Adventist, glaubte an die Schöpfungsgeschichte und hatte sein Datum der senkrechten Erdachse vermutlich an einem Sintflut-Datum von Bischof Ussher (England 1650) geeicht. Darum warnt Faulkner am Schluß die Kreationisten, die dieses Datum vertreten, sich nicht auf Dodwell zu stützen.

Angeregt wurde Dodwell durch ein Buch des Belgiers Godfrid Wendelin, das nach dreihundertjährigem Vergessen in der Bibliothek in Brugge aufgetaucht war und 1933 in Löwen gedruckt wurde.
Ich habe es im Internet gefunden: Wendelinus, Godefridi (1626): Loxias sev De obliqvitate solis diatriba (Antwerpen). Es enthält Angaben über Ekliptikmessungen von den alten Griechen seit Thales von Milet, den Wendelin 584 v.Chr. ansetzt mit 24° glatt, was nach Abzug der Sonnenparalaxe 20" weniger ausmacht (im Buch des Wendelin ist hier, S. 18, ein Druckfehler, statt 29' muß es 59' heißen) über die bekannten Daten von Eratosthenes und Ptolemäus (die er ebenfalls um die Parallaxe berichtigt), über das arabisch-persische Mittelalter (ebenfalls berichtigt um 20") bis zu Tycho Brahe und Wendelins eigener Zeit (1626). Daraus leitet Wendelin eine Theorie über die Änderung des Ekliptikwinkels ab (er nennt sie Apokatastasis, Wiederherstellung). Er nimmt an, daß 24° 30' die Obergrenze, 23° 30' die Untergrenze sei, der Durchmesser also ein Grad, d.h. ein halbes Grad jeweils oberhalb und unterhalb von 24°, in einem Zeitraum von 9840 Jahren mit einem Endpunkt bei 1860 (also in der Zukunft für Wendelin).
Da Dodwell seine grundsätzlichen Informationen hier gewann, sind seine Jahreszahlen nicht verwunderlich. Von einer ursprünglichen Senkrechtstellung der Erdachse ist bei Wendelin allerdings nicht die Rede.

Faulkner erwähnt auch eine neuere Arbeit über die Azimute der ägyptischen Bauten, die in fünf Folgen sehr dezidiert dieses Thema untersucht: Shaltout and Belmonte, 2005. Dabei stellt er fest, daß in keinem der ägyptischen Tempel eine spezielle Sonnenausrichtung auf Inschriften erwähnt wird.
Diese Untersuchung von Belmonte/Shaltout von praktisch allen (rund 350) Tempeln und Pyramiden in Ägypten und Nord-Sudan hat ergeben, daß ihre Achsen übereinstimmend häufig auf den Nordpol, auf Wintersonnenwende und teilweise auch nach Osten, sowie auf Sternaufgänge wie Sirius und Canopus ausgerichtet sind, daß also die astronomische Ausrichtung der Anlagen wichtig war und bei Wiedererrichtung auch jeweils auf den neuesten Stand des Kosmos gebracht wurde. Ausnahmsweise gibt es auch eine Ausrichtung nach dem Mondextrem, hier nicht von innen nach außen sondern umgekehrt visiert.
Geblieben ist die seltsame Feststellung, daß die Ägypter dennoch nirgends genaue Angaben über astronomische Visuren gemacht haben; sie sprachen nur von der Ausrichtung des Tempels mittels einer Meßzeremonie bei der Grundsteinlegung.

Teil 5: Hoffnung

In letzter Zeit ist man auch im Internet etwas vorsichtiger mit den Formulierungen geworden, sofern es die Stabilität der Präzession betrifft, die früher gern über Jahrhunderttausende rückberechnet wurde. Dr. Norbert Gasch (Arbeitsgemeinschaft Raumfahrt und Astronomie e.V.) rechnet zwar noch gern viele Jahrtausende in beiden Richtungen, sagt aber dazu bemerkenswerterweise unter dem Stichwort "Die Präzession":
"Der hier (in 2 Abbildungen) dargestellte Zeitraum umfaßt jeweils 12.000 Jahre in die Zukunft wie in die Vergangenheit. Geht man darüber hinaus, werden mögliche Abweichungen vom bisher bekannten Verhalten der Erdachse immer unwägbarer und die Bewegung der Sterne am Himmel wird immer größer. Unter Vorbehalt kann man aber noch etwas weiter in die Zukunft schauen ... Da sich mit weiter von der Gegenwart wegführenden Berechnungen Fehler in der Eigenbewegung (sie ändert sich mit der Zeit!) und im Präzessionsverhalten der Erde bekanntlich aufhäufen, ist eine Extrapolation natürlich nicht beliebig weit möglich."
(Die unnötigerweise komplizierende Erwähnung der Eigenbewegung der Fixsterne übergehe ich hier.)
Hinsichtlich der üblichen Aussage "Kreis der Präzession" heißt es dort nun:
"Für die Nordhalbkugel der Erde sind dabei vielfach vereinfachende Darstellungen im Umlauf, die die Präzessionsbewegung als einen Kreis mit 23,5 Grad Durchmesser um den Pol der Ekliptik herum schematisieren. Diese Vereinfachung trifft den wahren Sachverhalt aber nur teilweise; in Wirklichkeit beschreibt die Präzessionsbewegung über die Jahrtausende eine recht komplizierte Rosettenlinie am Himmel, da die Erdachse auch durch die Schwerefelder der Planeten beeinflusst wird."
Die dazu gelieferten beiden Abbildungen zeigen als Präzessionskurve der Nord- und Südhalbkugel je eine offene Ellipse mit Lücke bei +12900 und –12900 Jahren, die nicht zu überbrücken ist und eher als Wiedergabe einer leicht gezogenen Spirale gesehen werden kann. Bravo!
Allerdings sagt Gasch nicht, wie dieses "immer unwägbarer werdende Verhalten der Erdachse" zustandekommt und woran es erkennbar ist. Ob hier uneingestandene Katastrophen oder die Chaostheorie ihr Unwesen treiben ?
Bis zur Erkenntnis, daß auch die Kurve der letzten wenigen Jahrtausende menschlicher Aufzeichnungen Lücken im Präzessionsablauf erkennen läßt (Jahrkreuz S. 146, Abb. 60), ist es nun nicht mehr so weit.
(Zum Trepidationsverhalten der Erde auf Grund von Katastrophenereignissen siehe auch hier im Leseaaal: Labyrinthe - Ritual zur Überwindung der Trepidation).

Literatur

Dodwell, George F.: The Obliquity of the Ecliptic. Ancient, mediaeval, and modern observations of the obliquity of the Ecliptic, measuring the inclination of the earth's axis, in ancient times and up to the present (Wayville, South Australia, October 1962 "Manuskript" - Herausgeber: Barry und Helen Setterfield im Auftrag der Astronomical Society of South Australia (February 2010)
Faulkner, Danny R. (2013): An Analysis of the Dodwell Hypothesis, in: Answers Reasearch Journal, May 15, 2013 (www.answersresearchjournal.org)
Jung, Erich (2°, 1939): Germanische Götter und Helden in christlicher Zeit (Lehmanns, München-Berlin)
Lockyer, Norman (1894): The Dawn of Astronomy (Cassell, London etc.)
(1909): Surveying for Archaeologists (Macmillan, London)
Müller, Rolf (1930): Der Sonnentempel in den Ruinen von Tihuanacu
(1970): Der Himmel über dem Menschen der Steinzeit (Springer, Berlin-New York)
Newcomb, Simon (1890): Elements of Astronomy (New York)
Peiser, Benny (1990): "Archilochos und Olympia" in: VFG 5/90, S. 20-37 (Mantis, Gräfelfing)
Richards, F. S. (1921): Note on the Age of the Great Tempel of Ammon at Karnak as determined by the Orientation of its Axis (Survey of Egypt Papers, No. 38, Kairo)
Shaltout, M. and J. A. Belmonte (2005): On the orientation of ancient Egyptian temples: (1) Upper Egypt and Lower Nubia. Journal for the History of Astronomy 36, no. 3: 273–298 (Kairo) - (insgesamt gibt es 5 Folgen dieser Arbeit)
Stockwell, John N. (1873): Smithsonian Contributions to Knowledge (USA)
Tannery, Paul (1893): Recherches sur l'histoire de l'astronomie ancienne (Paris)
Topper, Uwe (1998): Die Große Aktion (Grabert, Tübingen)
(2016): Das Jahrkreuz. Sprünge im Verlauf der Zeit (Hohenrain, Tübingen)
go(2018): Abnahme der Erdschiefe - sowie Okt. 2014 auch in Englisch: The Diminishing obliquity of the Earth -
und schon 2008: Cataclysms are the reasons for our wrong chronology

Uwe Topper, 28. 3. 2019

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